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ZU DEN ARBEITEN VON TON MARS

Hanna Humeltenberg in NIKE (New Art in Europe) No. 25, 1988.

SCHAUPLATZ (Ausstellung: Galerie Kicken – Pauseback, Köln, 1988. )


“Fühlen ohne zu besitzen, heißt bewahren, denn es bedeutet,
aus einer Sache ihr Wesen
herauszuziehen.”

(Fernando Pessoa)

Es beginnt  für den Künstler die Schöpfung mit dem Sehen. Sehen ist schon ein schöpferischer Akt, der eine Anstrengung erfordert. Alles was wir im täglichen Leben sehen, wird mehr oder weniger entstellt durch erworbene Gewohnheiten. 1)  Bei den Arbeiten von Ton Mars wird man gerade in eine ’Schule des Sehens’ geschickt, die die Schlacken der allgemeinen Wahrnehmung wegfiltert. Seine Bilder sind ‘Schauplätze’ auf Denen sich ein gewisses Zeichen potential ‘zur Schau stellt’, in einen lebhaften Dialog miteinander tritt. Dies geschieht in einer eigentümlich – subtilen Art und Weise, so dass der Betrachter unwillkürlich in ‘den Sog der Zeichen gerät’.

Ton Mars (Jahrgang 1950) lebt und arbeitet in Groningen. In 1979 war er Mitbegründer der Künstlerinitiative ‘De Zaak’ in Groningen. Seit 1980 ist er als Dozent für Malerei und Zeichnung an der dortigen Akademie der Bildende Künste tätig. Die ersten Ausstellungen ergaben sich Anfang der 80iger Jahren in den Niederlanden. 1986 wurde dann die Shimada Gallery in Japan auf seine  Arbeiten aufmerksam und stellte ihn in einer Einzelausstellung vor. Im gleichen Jahr war es in Deutschland Cora Hölzl /Düsseldorf, die den Künstler mit eine Präsentation ins Zentrum des Interesses rückte. Im November diesen Jahres werden dort wieder Arbeiten in einer Einzelausstellung zu sehen sein.

Frappierend ist zunächst einmal, dass es bei den Bildern von Ton Mars schwer möglich ist, entweder die Zeichen oder die Bildfläche wahrzunehmen. Konzentriert man sich auf die kleinformatigen Bild-Tafeln, so erscheint stets das Bild als Ganzes, als eine Ganzheit; das bedeutet, Zeichen und Flächenumfeld treten in eine intensive, wechselseitige Korrespondenz, verdichten sich zu einen ästhetischen Schauplatz. Duale Kategorisierungen werden damit gekonnt abgewehrt. Die Arbeiten erschließen sich so eher einer ‘unbefangene Aufmerksamkeit‘ als dem Alltagsbewusstsein mit seiner ‘besorgten Intentionalität‘, 2) das permanent bewertet und urteilt, um damit festgefügte Bedeutungen zu schaffen.

Durch die äußerst  kompakten Leinwandkonstruktionen bewegen sich die Bilder in einem Zwischenbereich, in einem inter-esse zwischen Bild und Objekt. Gerade die kastenförmigen Leinwände fördern ständig einen illusionären Charakter, verstärken die schwebende Dimension zwischen Bild und Objekt. Holz als mögliche Materialgrundlage hätte dagegen die Bestimmung als ‘Objekt‘ eindeutig festgesetzt.

Dieses Moment des ‘Nicht-exakt-Bestimmbaren ’intensiviert einerseits die Anziehungskraft der Arbeiten, fordert aber gleichzeitig auch heraus, kann beunruhigen, da das Denken zwangsläufig nach festen Definitionen sucht, um die chaotische Fülle der Erscheinungen zu bannen. Das Nicht-Eindeutige ist (zumeist für den westlichen Menschen) schwer zu akzeptieren. So lässt Paul Valéry in seinem Dialog ‘Eupalinos‘ 3) den wissbegierigen Socrates am Strand ein undefinierbares ‘Ding’ finden, über dessen mögliche Bestimmung und Herkunft sich ein Philosophischer Diskurs entspinnt. Doch das Problem ist nicht lösbar. Am Ende wirft Socrates, für Valéry ein Synonym für den Abendländischen Denker, dieses ‘objet ambigu’ wieder ins Meer, kapituliert vor dessen Relativität.

Auf einer Analogen Ebene könnte man den Impetus von Ton Mars Bild-Zeichen mit der Funktion des zen-buddhistischen ‘Mondo‘ in eine gewisse Beziehung setzen; man wird dort falls mit etwas Unbestimmbaren, nicht Eindeutigen konfrontiert, an dem die Strategien des Verstandes scheitern. Gerade dieser Bruch macht den Geist aber wieder frei, gibt den nötigen Anstoß für die ‘pure Wahrnehmung‘, die unvoreingenommenes Sehen erst ermöglicht.

Überlässt man sich den Zeichen-Zirkulationen  von Ton Mars, so konfrontieren diese ebenfalls mit einer untergründigen Mehrdeutigkeit, da sie vielfältigen Assoziationen Anlass geben; etwa zu Strukturen des Mikrokosmos, zum Aufbau von Materie überhaupt, der sich in physikalischen Prozessen spiegelt. Es scheint, als würde die Bild-Konstitution  eine fundamentale Dynamik demonstrieren, das Zusammenspiel eines archaisches Vokabular.  Schon seit längerem macht sich ja ein intensiver Diskurs zwischen Kunst und Wissenschaft bemerkbar, eine Reflexion über mögliche, identische Ausgangspunkte von Welterfassung. Ein Moment das sowohl Kunst wie auch Naturwissenschaften vorantreibt, ist zweifellos die Komplexität von Realität, die sich etwa den Polen Ordnung-Zufall und damit auch an den Problematik von Ein- und Mehrdeutigkeit manifestiert.

Während die früheren Arbeiten von Ton Mars noch mehr figürlichen Assoziationen zulassen, etwa zur trapezform, reduzieren sich die Zeichen in den folgenden Jahren immer konsequenter. Nicht nur in der Physik, sondern auch in der Kunst der Moderne ist die Reduktion das Mittel, um eine größtmögliche  Dichte und Konzentration der Thematik zu erreichen, um störende Einflüsse weitgehend zu eliminieren. Die Bild-Objekte zeigen oft schräge Strich-Formationen, die mit konvexen Formen, manchmal erinnern diese an offene Ellipsen, in Beziehung treten. Es entsteht so ein äußerst fragiler Zeichenkosmos, der von einer inhärenten Dynamik geprägt ist. Bei aller Eigendynamik des Bildgeschehens wirken die Arbeiten auch über sich selbst hinaus, in den umliegenden Raum hinein. Fast ist es so, als wenn die Bild-Objekte ein Stück weit den Außenraum suggestiv besetzen; gerade dadurch wird das Umfeld aber in Eigenartigkeit verstärkt ins Bewusstsein gerückt und damit auch wieder authentisch erfahrbar. Von Bild zum Raum wie auch von Raum zum Bild hin scheint sich so eine vibrierende Interaktionszone zu konstituieren.

Der Arbeitsprozess verläuft dementsprechend vielschichtig, in mehreren Etappen. Nach dem Auftragen des Zeichenpotentials mit Kreide folgt die Arbeit an den Farbflächen. Da oft rötliche Töne für den Untergrund verwendet werden, bewirken dieses ein subtiles Hindurch schimmern zur Oberfläche, was der pastosen Farbdichte ein seltsam changierendes Moment verleiht. Durch präzise, haarfeine Aussparungen am äußeren Umriss der Zeichen, wird eine latente Spannung zwischen Fläche und Räumlichkeit erzeugt, die den prinzipiell mehrdeutigen Charakter der Arbeiten noch betont. Die vordergründige Monochromen Flächen entpuppen sich so als äußerst lebendige Territorien; einzelne Partien erscheinen fast stumpf-opak, andere Zonen präsentieren verhalten-glänzenden Farbnuancen, so das eine ideale Folie für die Zeichen-Setzung gegeben ist. Die Fläche hebt sich so hervor, ohne selbst ‘in den Hintergrund’ zu treten.

Die Farbkonstellationen wirken unaufdringlich, verhalten, sich zu einer eigenen Ordnung und Gesetzmäßigkeit zu fügen. Neben bräunlichen Rottönen taucht immer wieder Blau auf, sei es als Farbe der Zeichen oder der Flächen. Es ist ein luzides Blau, angesiedelt in einem schwebenden Bereich zwischen hell- und Dunkelabschattungen. Gerade Blau transportiert eine ganz spezifische Ausstrahlung und damit gekoppelt auch Gestimmtheit an den Betrachter heran. Man könnte dies Gestimmtheit am ehesten mit ‘wacher Aufgeschlossenheit‘ oder ‘Offenheit in der Beobachtung‘ 4) umschreiben. Die Farbgebung übt also einen in-direkten Einfluss auf die menschliche Psyche aus; Farbe wirkt hier wie ein Katalysator, der sowohl für die Objekte der unmittelbaren Umgebung als auch für die Welt im allgemeinen die Augen öffnet.

Die geistige Wirkung eines vordergründig ‘materiellen‘ Mediums wie der Farbe wird damit evident. Erwiesen ist, dass Farbe Einfluss auf die verschiedenen Sinneswahrnehmungen des Menschen nehmen kann, als ein bestimmtes energetisches Potential wirkt.

Die Bild-Objekte fördern so ein Aufmerken für die Wechselwirkung zwischen geistigen und materiellen Bereichen. Die intensive Beschäftigung mit einem abstrakten Zeichenrepertoire resultiert bei Ton Mars aus einer langjährigen Auseinandersetzung mit den klassischen Vertretern dieses Bereichs, so natürlich mit Mondrian und der Stijl-Gruppe. Durch harmonische, geometrische Ordnungsgefüge versuchte etwa Mondrian zu einer universalen, absoluten Ordnung der Kunst zu gelangen, inzwischen ein klassischer ästhetischer Ansatzpunkt.

Anmerkungen
1. Hannes Böhringer, Begriffsfelder, Von der Philosophie zur Kunst, Berlin 1985, S. 80.
2. ders., a.a.O., S. 103 f.
3. Paul Valéry, Eupalinos oder über die Architektur. Leipzig 1927, S. 140 f.
4. Volker Harlan, Was ist Kunst? Werkstattgespräch mit Joseph Beuys, Stuttgart 1986, S. 112 f.
5. Victor Segalen, Die Ästhetik des Diversen, Frankfurt 1983, S. 53 u. 111.
6. Ton Mars, Hermetica in: The Corresponding Difference, Catalog Cora Hölzl, Düsseldorf.